Dr. Ulrich Ulonska: Die Jenninger Rede. Eine Rede, die die Nation erregte.
10. November 1988. Deutscher Bundestag. Es spricht der Bundestagspräsident Dr. Philipp Jenninger.
Warum löste diese Rede solche Emotionen aus?
Der 10. November 1938 war der Beginn der groß angelegten Verfolgung und Diskriminierung bestimmter Teile der deutschen Bevölkerung (1). Die Rede Jennigers zum 50. Jahrestag löste einen Eklat aus, der mit seinem Rücktritt endete. Presse, Funk und Fernsehen berichteten ausführlich darüber - das war vor 20 Jahren ein Thema für die ganze Nation (2). Damals meldeten sich auch viele Fachkollegen aus Rhetorik, Sprachwissenschaft, Psychologie und zahlreichen anderen Disziplinen zu Wort, übten Kritik, zeigten Fehler auf und gaben Verbesserungsvorschläge (3). Eine der jüngsten Publikationen zur Rede Jennigers Rede ist 2001 erschienen (4). Ich erinnere mich noch, 1988 saß ich gerade an meiner Dissertation (5) über Hitlers Rhetorik und habe die Diskussionen und Veröffentlichungen sehr aufmerksam verfolgt. Eines weiß ich noch genau: Keine der Äußerungen zu Jennnigers Rede, so schien es mir, traf den Kern und so ist es auch noch heute. 2008, 20 Jahre später, möchte ich ein anderes Erklärungsmuster vorstellen.
Dazu greife ich auf die Rhetorik des Aristoteles zurück.
Aristoteles nennt 3 Haupt Überzeugungsmittel:
1.) Ethos (die Selbstdarstellung des Redners)
2.) Pathos (die Gefühle, die er erregt) und
3.) Logos (den sachlichen/logischen Beweis) (6).
Nun ist es so, dass Punkt 3.) nach 1945 sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Die Argumentationstheorie und -forschung boomte (7). Das Pathos hingegen scheint schwer zu fassen, zugleich wird es von allen antiken Rhetorikern als das stärkste Überzeugungsmittel explizit genannt. Allerdings gibt es in der Rhetorik des Aristoteles einige Textpassagen, die man einfach zu leicht als Nebensatz oder Nebensächlichkeit überliest. Aristoteles seziert das Pathos aber sehr exakt und stellt damit zugleich eine Anleitung zur Pathoserregung bereit (8): „Affekte aber sind solche Regungen des Gemüts, durch die Mensch sich entsprechend ihrem Wechsel hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und denen Schmerz bzw. Lust folgen: wie z. B. Zorn, Mitleid, Furcht und dergleichen sonst sowie deren Gegensätze. Man muss bei jedem Affekt in dreifacher Hinsicht eine Unterscheidung treffen. Ich meine, z. B. beim Zorn ist zu unterscheiden, in welcher Verfassungen sich die Zornigen befinden, gegenüber wem man gewöhnlich zürnt und über welche Dinge. Denn wir einen oder zwei von diesen Aspekten hätten, aber nicht alle, so könnten wir unmöglich Zorn erregen. Ähnlich steht es mit den übrigen Affekten.“ Was hier im Text fast untergeht ist eine klare Handlungsanleitung:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer? 2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden? 3.) Welche Dinge sind es, die den Affekt erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
Soviel zu Theorie (9). Was nützt das bei der Jenninger Rede? Schauen wir uns die Rede an. Ich habe drei Beispiele ausgewählt:
Beispiel 1: Seite 2. 1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
A: Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hätte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und, schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um eine von der damaligen Staatsführung erdachte, angestiftete und geförderte Aktion.
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
B: Die herrschende Partei hatte in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten Recht und Gesetz suspendiert; der Staat selbst machte sich zum Organisator des Verbrechens. An die Stelle von gezielten Gesetzen und Verordnungen, mit deren Hilfe über Jahre hinweg die schleichende Entrechtung der Juden betrieben worden war, trat jetzt der offene Terror. Eine noch immer nach Hunderttausenden zählende Minderheit war zum Freiwild erklärt worden, ihr Hab und Gut der Zerstörungswut eines organisierten Mobs anheim gegeben.
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
C: Weit über 200 Synagogen wurden niedergebrannt oder demoliert, jüdische Friedhöfe verwüstet, Tausende von Geschäften und Wohnungen zerstört und geplündert. Rund hundert Juden fanden den Tod, etwa 30 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt; viele von ihnen kehrten nicht mehr zurück.
Nicht in Zahlen zu fassen waren die menschlichen Qualen, die Drangsalierungen, Demütigungen, Misshandlungen und Erniedrigungen.
Fazit: Pathos der Schuld bei den Deutschen, aus jüdischer Perspektive sicherlich ein Affront.
Ändern wir die Reihenfolge:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
B: Die herrschende Partei hatte in Gestalt ihrer höchsten Repräsentanten Recht und Gesetz suspendiert; der Staat selbst machte sich zum Organisator des Verbrechens. An die Stelle von gezielten Gesetzen und Verordnungen, mit deren Hilfe über Jahre hinweg die schleichende Entrechtung der Juden betrieben worden war, trat jetzt der offene Terror. Eine noch immer nach Hunderttausenden zählende Minderheit war zum Freiwild erklärt worden, ihr Hab und Gut der Zerstörungswut eines organisierten Mobs anheim gegeben.
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
C: Weit über 200 Synagogen wurden niedergebrannt oder demoliert, jüdische Friedhöfe verwüstet, Tausende von Geschäften und Wohnungen zerstört und geplündert. Rund hundert Juden fanden den Tod, etwa 30 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt; viele von ihnen kehrten nicht mehr zurück.
Nicht in Zahlen zu fassen waren die menschlichen Qualen, die Drangsalierungen, Demütigungen, Misshandlungen und Erniedrigungen.
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
A: Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hätte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und, schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um eine von der damaligen Staatsführung erdachte, angestiftete und geförderte Aktion.
Fazit: Pathos der Wachsamkeit.
Beispiel 2. Seite 5f:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
A: Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge Außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, musste dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
B: Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, dass 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiss, einige "querulantische Nörgler" wollten keine Ruhe geben und wurden von Sicherheitsdienst und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft - dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.
Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die staunen erregenden Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos, Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse- und Versammlungsfreiheit und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und Assimilation.
Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar selbst. Da stellte sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar wieder groß, ja, größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen?
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
C: Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so hieß es damals - , die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?
Fazit: Pathos der Empörung
Ändern wir auch hier die Reihenfolge:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
A: Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge Außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, musste dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
C: Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so hieß es damals - , die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
B: Sicher, meine Damen und Herren, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, dass 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiss, einige "querulantische Nörgler" wollten keine Ruhe geben und wurden von Sicherheitsdienst und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft - dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.
Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die staunen erregenden Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos, Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse- und Versammlungsfreiheit und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und Assimilation.
Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar selbst. Da stellte sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar wieder groß, ja, größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen?
Fazit: Pathos der Verantwortung
Am deutlichsten wird die Bedeutung der Reihenfolge in dem letzten Beispiel Nr. 3 von Seite 12 f:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
A: Von Dostojewski stammt der Satz: "Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt." Wenn es keinen Gott gibt, so ist alles relativ und imaginär, da vom Menschen gemacht. Dann gibt es keine Wertordnung, keine verbindlichen Moralgesetze, keine Verbrechen, keine Schuld, keine Gewissensbisse. Und da denjenigen, die um dieses Geheimnis wissen, alles erlaubt ist, hängen ihre Handlungen allein von ihrem Willen ab. Sie sind frei, sich über alle Gesetze und moralischen Werte hinwegzusetzen.
Dostojewski hat diesen Gedanken - der später bei Nietzsche wiederkehrt – in mehreren seiner Werke auf seine Konsequenzen für das Individuum wie für das Zusammenleben der Menschen, für die Gesellschaft untersucht. Was seinen Zeitgenossen als abseitige Spekulation eines religiösen Grüblers erscheinen mochte, erwies sich als prophetische Vorwegnahme der politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
B: Hören wir dazu einen Augenzeugen, der deutschen Wirklichkeit des Jahres 1942: Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, mussten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes, der in der Hand eine Reit - oder Hundepeitsche hielt, ausziehen und ihre Kleider nach Schuhen, Ober - und Unterkleidern getrennt an bestimmten Stellen ablegen. … Ohne Geschrei oder Weinen zogen sich diese Menschen aus, standen in Familiengruppen beisammen, Küsten und verabschiedeten sich und warteten auf den Wink eines anderen SS-Mannes, der an der Grube stand und ebenfalls eine Peitsche in der Hand hielt. ... Ich beobachtete eine Familie von etwa acht Personen. Einen Mann und eine Frau, beide von ungefähr 50 Jahren, mit deren Kindern, so ungefähr 1- , 8- und 10- jährig, sowie zwei erwachsene Töchter von 20 bis 24 Jahren. Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihn über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen ... Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor einem riesigen Grab. Dicht aneinander gepresst lagen die Menschen so aufeinander, dass nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf, um zu zeigen, dass sie noch lebten. Die Grube war bereits drei viertel voll. Nach meiner Schätzung lagen darin bereits ungefähr 1000 Menschen. Ich schaute mich nach dem Schützen um. Dieser, ein SS-Mann, saß am Rand der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, ließ die Beine in die Grube herabhängen, hatte auf seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte eine Zigarette. Die vollständig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube gegraben war, hinab, rutschten über die Köpfe der Liegenden hinweg bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies. Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein. Dann hörte ich eine Reihe Schüsse. Ich schaute in die Grube und sah, wie die Körper zuckten oder Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden Körpern lagen ... Schon kam die nächste Gruppe heran, stieg in die Grube hinab, reihte sich an die vorherigen Opfer an und wurde erschossen.
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
C: Dazu sagte der Reichsführer SS in seiner Rede vor SS-Gruppenführern in Posen im Oktober 1943:
Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden ... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – "Das jüdische Volk wird ausgerottet", sagt ein jeder Parteigenosse, "ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir." Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ... Insgesamt können wir sagen, dass wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.
Fazit: Hier entsteht das Pathos der Empörung.
Wie anders liest sich der Text in dieser Reihenfolge:
1.) In welcher Verfassung befinden sich die Zuhörer?
C: Dazu sagte der Reichsführer SS in seiner Rede vor SS-Gruppenführern in Posen im Oktober 1943:
Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden ... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – "Das jüdische Volk wird ausgerottet", sagt ein jeder Parteigenosse, "ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir." Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ... Insgesamt können wir sagen, dass wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.
2.) Über wen soll ein Affekt ausgelöst werden?
B: Hören wir dazu einen Augenzeugen, der deutschen Wirklichkeit des Jahres 1942: Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, mussten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes, der in der Hand eine Reit - oder Hundepeitsche hielt, ausziehen und ihre Kleider nach Schuhen, Ober - und Unterkleidern getrennt an bestimmten Stellen ablegen. … Ohne Geschrei oder Weinen zogen sich diese Menschen aus, standen in Familiengruppen beisammen, küsten und verabschiedeten sich und warteten auf den Wink eines anderen SS-Mannes, der an der Grube stand und ebenfalls eine Peitsche in der Hand hielt. ... Ich beobachtete eine Familie von etwa acht Personen. einen Mann und eine Frau, beide von ungefähr 50 Jahren, mit deren Kindern, so ungefähr 1- , 8- und 10- jährig, sowie zwei erwachsene Töchter von 20 bis 24 Jahren. Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihn über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefähr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhügel zu gehen ... Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor einem riesigen Grab. Dicht aneinander gepresst lagen die Menschen so aufeinander, dass nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf, um zu zeigen, dass sie noch lebten. Die Grube war bereits Dreiviertel voll. Nach meiner Schätzung lagen darin bereits ungefähr 1000 Menschen. Ich schaute mich nach dem Schützen um. Dieser, ein SS-Mann, saß am Rand der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, ließ die Beine in die Grube herabhängen, hatte auf seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte eine Zigarette. Die vollständig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube gegraben war, hinab, rutschten über die Köpfe der Liegenden hinweg bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies. Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein. Dann hörte ich eine Reihe Schüsse. Ich schaute in die Grube und sah, wie die Körper zuckten oder Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden Körpern lagen ... Schon kam die nächste Gruppe heran, stieg in die Grube hinab, reihte sich an die vorherigen Opfer an und wurde erschossen.
3.) Welche Dinge sind es, die den Affekte erregen und real empfundene Gefühl im Hörer entstehen lassen, mehr noch, die Gefühle tatsächlich internalisierten?
A: Von Dostojewski stammt der Satz: "Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt." Wenn es keinen Gott gibt, so ist alles relativ und imaginär, da vom Menschen gemacht. Dann gibt es keine Wertordnung, keine verbindlichen Moralgesetze, keine Verbrechen, keine Schuld, keine Gewissensbisse. Und da denjenigen, die um dieses Geheimnis wissen, alles erlaubt ist, hängen ihre Handlungen allein von ihrem Willen ab. Sie sind frei, sich über alle Gesetze und moralischen Werte hinwegzusetzen.
Dostojewski hat diesen Gedanken - der später bei Nietzsche wiederkehrt – in mehreren seiner Werke auf seine Konsequenzen für das Individuum wie für das Zusammenleben der Menschen, für die Gesellschaft untersucht. Was seinen Zeitgenossen als abseitige Spekulation eines religiösen Grüblers erscheinen mochte, erwies sich als prophetische Vorwegnahme der politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts.
Fazit: Pathos des Mitleids, der Verantwortung.
Philipp Jenniger hat diese Rede (natürlich) nicht selbst geschrieben. Es ist zugleich anzunehmen, dass er sie vor der Ansprache zumindest überflogen hat. Die Zitate und Fakten sind korrekt. Nur: Sprache bildet nie die Wirklichkeit ab. Noch einmal: Sprache bildet nie die Wirklichkeit ab. Denn: Je nach der Anordnung einzelner Redeteile wirken objektive Fakten auf Zuhörende sehr unterschiedlich. Zustimmung, Zorn, Wut, Trauer u. v. m.? Die Reihenfolge des Gesagten bestimmt die Wirkung. Was habe ich gesagt, was folgt? Die Reihenfolge können Redende frei wählen. Aber: die Abfolge einzelner Redeteile löst sehr verschiedene Gefühle bei den Zuhörenden aus. P. J. sprach aus der Betroffenheit heraus. Das zeichnet diesen Mann aus. Nur: Er hat die Wirkung nicht gespürt, die die Abfolge seiner Worte bei anderen, und besonders bei den Anwesenden auslösen würde.
Hier kann die aristotelische Handlungsanleitung helfen. Texte wirken unterschiedlich. Was sage ich in welcher Reihenfolge? Also: Wirkung kann bewusst gestaltet werden, wenn man weiß, wie es geht.
Das ist für Reden Schreibende ein Muss! (10ff).
Autor: Dr. Ulrich Ulonska Universität Witten Herdecke Universität Linz (A) Universität St. Gallen (CH) Privatanschrift: Dr. Ulonska Training Lindenteichstraße 8 D- 37124 Rosdorf Tel.: +49 (0) 5545/655-6 Fax: +49 (0) 5545/655-7 Internet: www. Dr-Ulonska.de
(1) Rhetorik ist hier auch Analytik, wenn z. B. die Boulevardpresse eine Kampagne startet. (2) Redetext unter: www.mediaculture- online.de. Seitenzählung nach PDF-Download. (3) Vgl. Walter Jens: Ungehaltene Worte über eine gehaltene Rede. Die Zeit. 47/1988. (4) Holger Siever: Kommunikation und Verstehen. Berlin 2001. http://buecher.hagalil com/lang/jenninger.htm Kurztext dazu. (5) Ulonska, U.: Suggestion der Glaubwürdigkeit. Untersuchungen zu Hitlers rhetorischer Selbst- darstellung zwischen 1920 und 1933. Ammersbek 1990. (6) Aristoteles: Rhetorik. 1980. (6a) Ulonska, U.: 1990, 1995, 1997. (7) Adolph, Toulmin, Göttert, Kienpointer, Völzing Und viele mehr. Siehe/suche: Bibliothek/Internet: Argumentation, Argumentationstheorie. (7a) Allerdings gibt es auch pragmatischere Stimmen: Ulonska, U.: Überlegungen zu einer pragmatischen Theorie der Argumentation. In: Sprechen II/1996. BVS. Regensburg. (7b) Ulonska, Ulrich: Überlegungen zu einer pragmatischen Theorie der Argumentation. 2008 (8) Aristoteles: Rhetorik. 1980. I, 9. (8a) Ulonska, U.: 1990. Ulonska, U.: Zur Rhetorik der Affekte. In: Sprechen II/1995. BVS. Regensburg. (8b) Ulonska, U.: Ethos und Pathos in Hitlers Rhetorik zwischen 1920 und 1933. In: Walter Jens, Gerd Ueding u.a.: Rhetorik - Ein Internationales Jahrbuch. Tübingen. 1997. (8c) Wörner, M. H.: Charakterdarstellung und Redestiel. In: Kühlwein, W. und Raasch, A .: Stil: Komponenten-Wirkungen. S. 129ff. Tübingen. (8 d) Wörner, M. H.: Die argumentative Funktion von Affekten beim Reden. In: Kühlwein/Raasch: Sprache: Lehren und Lernen. Band 2. Tübingen. S. 141ff. (9) Wer mehr wissen will: Ulonska, U.: 1990, 1995, 1997. (9a) Wörner, M. H.: 1982, 1983. (10) Ulonska, U.: Die Kunst der Gesprächsführung im Geschäftsleben. In: Der Karriereberater 6/1995. VBU. Bonn. (11) Ders.: Zum Nutzen einer systematischen Rhetorik für ein kooperatives Miteinander. Sontra.1996. (12) Ders.: Rhetorik. Deutscher Sparkasssen Verlag. 2003. Stuttgart. (13) Ders.: Gespräche führen: Unachtsamkeiten und Lösungen. Insbesondere die Anmerkungen in den Fußnoten. Sontra. 2006. (14) Rhetorik - aber richtig. In: Niedermair, Gerhard: Training in der Bildungsgesellschaft. Praxiserprobte Konzepte. Institut für Personal- und Organisationsentwicklung der Universität Linz(A). Linz 2011. (15) Ders.: Rhetorik für Führungskräfte. Borsdorf 2011
Fachliteratur als Text zu einem großen Teil auch auf der Homepage: www. Dr-Ulonska.de
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