Ulrich Ulonska: Glaubwürdigkeit kann man definieren. Zur Debatte um Christian Wulff.
Der Winter 2011/12 brachte Christian Wulff in seiner Rolle als Bundespräsident in die Schlagzeilen. Ihm wurden Verfehlungen und eine Beschädigung des Amtes nachgesagt. Seine Glaubwürdigkeit wurde in Frage gestellt.
Das ist eine schwierige Situation, denn die Einschätzung der Glaubwürdigkeit einer Person unterliegt sehr individuellen Kriterien und Menschen erleben das sehr unterschiedlich, was für den einen in Ordnung ist, ist für die andere schon mehr als unzumutbar.
Wie kann man denn nun Glaubwürdigkeit prüfen?
Da hilft die Rhetorik weiter. Der große griechische Rhetoriker Aristoteles hat Glaubwürdigkeit wie folgt definiert:
“Es gibt nun drei Ursachen dafür, dass der Redner selbst glaubwürdig ist; denn so viele Gründe gibt es - abgesehen von den Beweisen weswegen wir Glauben schenken. Es sind dies Einsicht, Tugend und Wohlwollen (...)”. (1)
Gehen wir es systematisch an:
1.) Einsicht.
”Mit der Klugheit wird der Redner nach seiner Sachkenntnis beurteilt.” (2)
“Muss ja doch der Klügste und Beste sein und scheinen, wer wünscht, alle möchten in Fragen des Nützlichen und des Anständigen seiner Auffassung Vertrauen schenken.” (3)
“Denn seine Einsicht in wesentlichen Fragen darzulegen, ist die Sache eines klugen, ehrenhaften und wortgewandten Mannes, damit die Gabe zur Voraussicht durch den Geist gegeben ist.” (4)
Ein erstes Kriterium, die Einsicht. Wie klug geht die betreffende Person mit Entscheidungen, Geschäften, Zahlungen, Freundschaften etc. um? Hat Wulff klug gehandelt?
2.) Tugend.
Tugend klingt veraltet, heute sagen wir Werte und Normen. In der Philosophie und bei den antiken Rhetorikern gibt es eine klare Rangfolge der Tugenden:
a) Gerechtigkeit
b) Tapferkeit
c) Mäßigkeit
Das sind die Kardinaltugenden.
Gerade bei den Tugenden gilt das rechte Maß der Mitte. Der ideale Wert liegt idealer weise situationsangemessen zwischen zwei extrem Unwerten. Tapferkeit z. B. liegt in der Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit, nämlich als kluge Vorsicht. Mäßigkeit liegt in der Mitte zwischen Geiz und Verschwendung.
Die Hierarchie der Werte ändert sich immer wieder einmal. (5) Manche Forscher sehen hier auch zyklische Muster, (6) die sehr zutreffend erscheinen.
Zurück zu Wulff.
War es gerecht, was er tat?
Steht er mutig zu dem, was er tat?
Hat er sich mäßig beschieden?
Auch diese Fragen mag ein jeder für sich beantworten.
3.) Wohlwollen
”Wir fühlen, dass man Zuneigung gewinnt, wenn man den Eindruck macht, das, was im Interesse des Publikums selbst liegt, gerechterweise zu vertreten, oder sich für verdiente Männer, bzw. solche, die für das Publikum wertvoll oder nützlich sind, zu engagieren. Mit dem letzteren gewinnt man nämlich mehr Zuneigung, (...) mit dem Einsatz für die Tugend mehr Respekt” (7)
Auch hier kann jeder für sich prüfen, in wie weit Christian Wulff wohlwollend den Bürgern gegenüber gehandelt hat.
Also kreuzen Sie an:
1.) Einsicht.
Hat er klug gehandelt?
2.) Tugend.
Ist er
a) gerecht?
b) tapfer/mutig?
c) mäßig?
3.) Wohlwollen.
Diente sein Handeln vor allem dem Nutzen und Interesse der Bundesbürger?
Viel Spaß bei der Entscheidung!
Fußnoten:
1. Aristoteles. Rhetorik. 1980:II,1.S.84. Vgl. Ulonska, U.: 1990. 2. Hellwig 1973:252 3. Quintilian 1972:III,8,13 4. Cicero 1976:II,333 5. Klingemann 1979:435ff6. Klingemann 1979:435 ff 6. Cicero 1976:II,206; vgl. auch Quintilian 1972:IV und 1975: XI,1,42 7. Cicero 1976:II,206; vgl. auch Quintilian 1972:IV und 1975: XI,1,42
Literatur:
Aristoteles: Rhetorik. München 1980. Cicero, M.T.: Über den Redner. Stuttgart. 1976. Hellwig, A.: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles. Göttingen 1973. Klingemann, H. D.: Perspektiven der inhaltsanalytischen Erforschung des gesamtgesellschaftlichen Wertwandels. In: Kmieciak, P. Wertwandel und Wertstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen. 1979. Quintilianus, M. F.: Ausbildung des Redners. Darmstadt 1972 f. Ulonska, Ulrich: Die Selbstdarstellung des Redners. Göttingen. 1983 Ulonska, Ulrich: Suggestion der Glaubwürdigkeit. Untersuchungen zu Hitlers rhetorischer Selbstdarstellung zwischen 1920 und 1933. Ammersbek. 1990. Ulonska, Ulrich: Rhetorik für Führungskräfte. Borsdorf 2011.
Rosdorf 2012
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